Historische Fehler und Erklärungsdefizite in der SPURENSUCHE-Route der „Westzipfelregion“ auf der offiziellen Webseite der Gemeindeverwaltung Gangelt
Harry W. Seipolt

Seit 1996 wird der 27. Januar in der Bundesrepublik und gesetzlich verankert als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Mit vielen Veranstaltungen erinnert man alljährlich an diesem Tag und bundesweit an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz 1945 vor 77 Jahren.

Gedacht wird dabei der sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, der Sinti und Roma („Zigeuner“), der Zwangsarbeiter bzw. Osteuropäer („Fremdvölkische“), dem Hungertod preisgegebenen Kriegsgefangenen, politische Gegner („Schutzhaft“), Zeugen Jehovas („Bibelforscher“), Homosexuelle („§ 175“), aber ebenso der Opfer der mörderisch-verbrecherischen „Euthanasie“.

Mir ist bekannt, dass es in Gangelt eine erhebliche Zahl von „Euthanasie“-Opfern gegeben hat. Kürzlich schaute ich mir die offizielle Webseite des Rathauses Gangelt an, besonders die Routenvorschläge auf der Navigationsleiste. Speziell interessierte mich die Sparte „Spurensuche. Erinnerungen an Gangelter Bürger jüdischen Glaubens“, die als Projekt der „Westzipfelregion“ erstellt wurde:  https://www.gangelt.de/tourismus

Beim Durchlesen stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass über die menschenverachtende NS-Gesundheitspolitik bis zu den Krankenmorden im Rahmen der NS-„Euthanasie“ in der damaligen Anstalt Gangelt „Maria Hilf“ keine weiteren Erläuterungen gegeben werden, allenfalls sehr dürftig im Zusammenhang einer Inschrift auf einer Gedenktafel der Via Nobis-Facheinrichtung in der Katharina-Kaspar-Straße (früher: Bruchstraße).

Von 1990 bis 1996 erhielt ich einen Forschungsauftrag der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Aachen e.V. über die Verstrickung der Heil- und Pflegeanstalten in die grausamen Verbrechen der NS-Zwangssterilisation und der NS-„Euthanasie“ im ehemaligen Regierungsbezirk Aachen. Ein spezieller Schwerpunkt waren auch meine Untersuchungen über die Anstalt Gangelt mit der verbrecherischen NS-„Ausmerz“-Politik. Erste Veröffentlichungen von Teilen dieser Forschungsergebnisse erfolgten 1991 im Symposionband „Psychiatrie im Abgrund. Spurensuche und Standortbestimmung nach den NS-Psychiatrie-Verbrechen“, in dem ich nahezu lückenlos den Leidensweg einer Gangelter Psychiatrie-Patientin bis zu ihrer Ermordung nachgezeichnet habe. /1/ 1992 /2/ und 1993 /3/ erschienen weitere Beiträge im Heimatkalender des Kreises Heinsberg. Zwei Jahre später veröffentlichte ich meine Publikation über die gewaltsame bzw. tödliche NS-Rasse- und Vernichtungspolitik in der Region Aachen von 1933 bis 1945. /4/  Von der hörenden Aachener Buchautorin Maria Wallisfurth /5/ durfte ich übrigens alle privaten Dokumente ihrer taubstummen Eltern Maria und Wilhelm Sistermann verwenden, um deren leidvollen Weg durch die Aachener und Kölner „Erbgesundheitsgerichte“ bis zu ihrer Zwangssterilisation 1934 zu veröffentlichen. /6/ Über meine Forschungsergebnisse berichten u.a. etliche regionale bzw. überregionale Zeitungen /7/ , Fachzeitschriften /8/ , die Kirchenzeitung für das Bistum Aachen /9/, ebenso das Deutsche Ärzteblatt/10/ wie die Jüdische Allgemeine /11/  (Hrsg.: Zentralrat der Juden in Deutschland) und die einzige deutschsprachige Tageszeitung Israels: die „Israel Nachrichten“ /12/ (hebräisch Chadashoth Israel).

In der Sparte „Spurensuche. Erinnerungen an Gangelter Bürger jüdischen Glaubens“ ist folgendes ergänzungs- bzw. korrekturbedürftig:

1. Auf der erwähnten Via Nobis-Gedenktafel steht kein Wort über die „Reichsausschußkinder“, trotzdem wird dieser Begriff benutzt bzw. von der „Westzipfelregion“ eingeführt, ohne ihn allerdings näherhin zu erklären. Diese Kinder selektierte der „Reichsausschuß“, dessen geschraubte Bezeichnung „zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten Leiden“ (NS-Jargon) den Massenmord an Minderjährigen verheimlichen sollte. Die als „unnütze Esser“ eingestuften Kinder wurden von diesem „Reichsausschuß“ zur klinischen Exekution in bewachte Kindermordzentren deportiert. Der größte Teil dieser Kinder litt offensichtlich nicht an schmerzhaften oder tödlichen Krankheiten. Die Mörder rechtfertigten ihre Taten mit der Begründung, die Gebrechen der Kinder seien unheilbar, machten sie für die „Gesundung des Volkskörpers“ unbrauchbar, seien „Ballastexistenzen“. /13/

„Reichsausschußkinder“ waren eben nicht nur geisteskranke Kinder, sondern auch geistig und körperlich gesunde „halbjüdische“ Kinder, „Mischlings“-Kinder und „Zigeuner“-Kinder, die SS-Ärzte und Pfleger mit tödlichen Injektionen bzw. überdosierten Medikamenten ermordeten. /14/ Den NS-Rassenfanatikern war früh der Gedanke gekommen, dass ohne die Ermordung der „wertlosen“ Kinder das „Euthanasie“-Programm „Stückwerk“ bleiben würde! Welche lokalgeschichtliche Literatur über die „Reichsausschußkinder“ als Quelle verwendet wurde bzw. woher dieser Begriff stammt, wird nicht erwähnt. In jedem Fall müssten auch hier genaue Belege aus Internetportalen oder eben aus gedruckten Quellen grundsätzlich angegeben werden, allein schon aus Plagiatsgründen. Dies ist leider nicht geschehen!

2. Die von der „Westzipfelregion“ angegebenen Zahlenangaben zur erwähnten Gedenktafel an der Hausfassade von Via Nobis, rechts vom Haupteingang, sind schlichtweg falsch: Für die damalige Rheinprovinz war ab Mitte Dezember 1941 /15/ die „Kinderfachabteilung“ Waldniel/b. Mönchengladbach „zuständig“, eine von über 30 /16/ dieser mörderischen „Abteilungen“. Im Juli 1943 wurde diese „Kinderfachabteilung“ geschlossen, da die Räumlichkeiten als Ausweichkrankenhaus benötigt wurden. Auf menschliche „Fürsorge“ konnten die Kinder nicht hoffen: Die verbliebenen minderjährigen Jungen und Mädchen verteilte man in andere Kindermordzentren im ganzen Reichsgebiet. /17/

3, Zwischen 1937 und 1944 wurden nachweislich aus der Anstalt Gangelt fast 260 psychisch kranke und behinderte Mädchen und Frauen in gerichtsbekannte Anstalten transportiert, wie aus staatsanwaltlichen Ermittlungsakten für das Schwurgericht am Düsseldorfer „Euthanasieprozess“ 1948/50 eindeutig zu entnehmen ist, die ich insgesamt habe einsehen dürfen. Diese „Verlegungen“ endeten für die meisten der Gangelter Patientinnen mit ihrer Ermordung. Welche Deportationen gemeint sind, wohin die „Verlegungen“ stattfanden, bleibt weiterhin unbekannt. Darüber erfährt man nichts auf dieser Route: „Informationen. Hintergrundgeschichten zu jüdischen Familien“. Auch hier wären nach entsprechenden Recherchen schriftliche Ergänzungen mit Leichtigkeit möglich gewesen.

4. Die Erinnerungssätze der Mahntafel am Gangelter Amtsgebäude an die in der NS-Zeit ermordeten Gangelter Juden sind zwar zitiert, dagegen bleiben die Opfer der „Euthanasie“-Krankenmorde der Anstalt Gangelt völlig unerwähnt. Es fehlt der halbe Text der Mahntafel in der „Spurensuche“-Tour! Es heißt hingegen für jeden lesbar auf der Mahntafel am Rathausgebäude: „Wir gedenken der jüdischen Mitbürger und der Behinderten und Kranken, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geworden sind. Die Opfer mahnen uns.“

5. Soweit biografische Geschichten der Gangelter Juden und ihre historischen Verortungen in diesem Zusammenhang in „Spurensuche“ der „Westzipfelregion“ auf der betreffenden Homepage aufgeführt werden, gehört wohl ebenso die Geschichte der Gangelter Psychiatrie-Patientinnen zur NS-Zeit fraglos dazu – erkennbar auch in einer revidierten Überschrift, etwa so (Vorschlag): „Spurensuche. Erinnerungen an die jüdischen Opfer des Holocaust und an die „Euthanasie“-Opfer während des Nationalsozialismus“.

Wir haben die Pflicht, uns an beide Opfergruppen zu erinnern, so wie die Gedenktafel am Rathaus, enthüllt am 9. November 1991, für alle sichtbar an die jüdischen Holocaust- und “Euthanasie”-Opfer im Ort mahnt. Gangelt ist mit Abstand der Ort innerhalb des Kreises Heinsberg, der nachweisbar mit fast 300 ermordeten Menschen die höchste NS-Opferzahl aus dem Holocaust und den Krankentötungen im Rahmen der NS-„Euthanasie“ zu verzeichnen hat (rd. 40 jüdische Gangelter Bürger und rd. 260 Behinderte der Anstalt Gangelt). Wir stehen alle im dunklen Schatten dieses lokal-historischen Faktums und dieser schweren Bürde: ein Tatort, Leidensort und Trauerort – daran erinnert uns schon seit drei Jahrzehnten die Mahntafel am Gangelter Rathaus!

Die Erinnerungskultur in der Ortsgeschichte Gangelts darf nicht durch vermeintliche Unachtsamkeit oder gar Oberflächlichkeit „entsorgt“ werden – auch und gerade nicht auf einer Route, die sich mit lokalen Opfern des Nationalsozialismus beschäftigt, die der Rassenwahn des NS-Regimes in den Massenvernichtungslagern und Töungsanstalten grausam ermordet hat. Dass auf der Internetseite der Gemeindeverwaltung Gangelt der Zugangsbegriff „Tourismus“ benutzt wird, um auf diese „Spurensuche“-Route zu gelangen, ist mehr als fragwürdig bzw. respektlos, und kommt einer Verhöhnung der Holocaust- und “Euthanasie”-Opfer gleich!

Es ist bedauerlich, dass diese fünf historischen Fehler bzw. Erklärungsdefizite nicht eher festgestellt und behoben worden sind. So hätte wohl früher verhindert werden können, einen mit gravierenden Mängeln versehenen Text zur „Spurensuche“-Route monatelang der Öffentlichkeit zuzumuten. Korrekturen und notwendige Ergänzungen sind aber wohl jederzeit möglich, sicherlich auch im Interesse der Verantwortlichen der „Westzipfelregion“!

Quellennachweis

1 Vgl. Harry Seipolt: Veronika A. zum Beispiel. Eine Gangelter Psychiatrie-Patientin im Strudel der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. In: Ralf Seidel, Wolfgang Franz Werner (Hrsg.): Psychiatrie im Abgrund. Spurensuche und Standortbestimmung nach den NS-Psychiatrie-Verbrechen. Köln 1991, S. 53–73.
2 Vgl. Harry Seipolt: „… stammt aus asozialer und erbkranker Sippe“. Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ im Kreis Heinsberg 1933 – 1945. In: Heimatkalender des Kreises Heinsberg, Jg. 1992, S. 112-124.
3 Vgl. Harry Seipolt: „Reichsausschußkinder“ im Kreis Heinsberg 1933 – 1945. In: Heimatkalender des Kreises Heinsberg, Jg. 1993, S. 123-135.
4 Vgl. Harry Seipolt: „… kann der Gnadentod gewährt werden.“ – Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ in der Region Aachen. Aachen 1995.
5 Vgl. Maria Wallisfurth: Sie hat es mir erzählt. Freiburg i. Br./Basel/Wien 1979 (8. Auflage). Maria Wallisfurth wurde als hörendes Kind taubstummer Eltern geboren. In ihrem bewegenden und empfehlenswerten Erzählroman schildert sie authentisch und einfühlsam das Schicksal ihrer gehörlosen Eltern zur Zeit der Jahrhundertwende und des Dritten Reichs. Die Schriftstellerin und einflussreiche Literaturkritikerin Elke Heidenreich schrieb über Wallisfurths Buch kategorisch: „Sie sollten dieses Buch lesen!“
6 Vgl. Harry Seipolt: Zwangssterilisation – Der Fall Maria und Wilhelm Sistermann. In: Eilendorfer Heimatblätter. Band 14 (1996), S. 57-70. Siehe auch Harry Seipolt: „… kann der Gnadentod gewährt werden.“ – Zwangssterilisation und NS-„Euthanasie“ in der Region Aachen, a.a.O., S. 55-62.
7 Heinsberger Zeitung v. 13. Oktober 1995 ● Heinsberger Zeitung v. 27. Juli 2007 ● Aachener Nachrichten v. 13. Januar 1992 ● Aachener Nachrichten v. 3. September 1994 ● Aachener Nachrichten v. 9. Oktober 1995 ● Aachener Zeitung v. 7. Oktober 1995 ● Klenkes – Aachens Stadtmagazin v. 16. Dezember 1995 ● Rheinische Post v. 15. November 1994 ● Erkelenzer Nachrichten v. 11. November 1994 ● NGZ – Neuß-Grevenbroicher Zeitung v. 19. April 1990 ● „Der Weg“ – Evangelisches Sonntagsblatt für das Rheinland v. 27. Mai 1990 ● Kölner Stadtanzeiger v. 24. Oktober 1995 ● Studienkreis: Deutscher Widerstand (Frankfurt/Main) – Nr. 43 v. März 1996 ● De Limburger – Provinciaal Dagblatt v. 19. Juni 1992 (NL).
8 Vgl. Soziale Psychiatrie. Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, Heft 1, März 1996.
9 Vgl. Kirchenzeitung für das Bistum Aachen, Nr. 17 v. 26. April 1992.
10 Vgl. Deutsches Ärzteblatt Nr. 89, Heft 6, Februar 1992.
11 Vgl. Jüdische Allgemeine. Einzige deutschsprachige Wochenzeitung für Politik, Kultur, Religion und jüdisches Leben. Vom 12. Dezember 1991.
12 Vgl. Israel Nachrichten v. 29. Juli 1991.
13 Vgl. Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 1997, Kap.: Der Mord an den behinderten Kindern, S. 84-116, S. 110.
14 Vgl. Gerhard Schmidt: Selektion in der Heilanstalt 1939 – 1945. Stuttgart 1965, Kap.: Der perfektionierte Kindermord, S. 94 – 127. Ebenso Henry Friedlander: Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: Götz Aly: Aktion T4 1939 – 1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. (Stätten der Geschichte Berlins, Band 26), Berlin 1987, S. 34-44.
15 Vgl. hierzu Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt/Main 2010 (3. Auflage), S. 359f.
16 Vgl. Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich, a. a. O., S. 360-365.
17 Vgl. Archivberatungsstelle Rheinland – Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (Pulheim-Brauweiler), Nr. 14295, Teil 2.
18 Vgl. 8 Kls/48 des Schwurgerichtes Düsseldorf vom 24.11.1948 (Euthanasie in der Rheinprovinz).
19 Vgl. Aachener Nachrichten v. 11. November 1991: Enthüllung der Gedenktafel am Gangelter Rathaus durch Gemeindedirektor Peter Brüser im Beisein der ehemaligen jüdischen Gangelter Mitbürger Helmut David Rosendahl und Ernest Hartog.